Meine Lyrikecke im Traumschloss |
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Kurzgeschichten II
Farbenlehre
Eine kleine weißhaarige, mit gütigen Falten gesegnete alte Frau, strickt Strümpfe. Sie sitzt allnachmittäglich an dem schweren Esstisch mit den dicken gedrechselten Kugelbeinen. Sorgfältig schiebt sie das geklöppelte Spitzendeckchen in die Mitte des Tisches zurück, dreht ihren Stuhl etwas zur Seite. Müde blickt sie auf eine Blechdose die zu ihren Füßen steht.
In allen Farben ruhen Wollreste, sorgfältig auf alte Papierröllchen gewickelt, darin. Zieht die alte Frau am roten Faden, den sie sorgfältig um ihre Finger gelegt hat, so kriecht das rote Fadenknäuel in der Dose nach oben. Zieht sie am Blauen, rutscht dieser in die Höhe und legt sich Wange an Wange zum roten, etwas verfilzten Knäuel. Manche Wolle hat sie mehrfach verstrickt, wieder aufgetrennt, das Geribbelte mühselig, aber liebevoll glatt gestrichen.
Sorgfältig verwahrte sie all ihre Faden-Schätze in der Dose.
Diese Dose, schon jahrzehntegebeult, durch Kriegswirren geschleust, mit pausbäckigen Engeln rundum übersät, goldene Erinnerungen - beherbergte einst die Briefe ihres Anton. Anton, ihr Verlobter. Anton, der Geliebte. Anton, der Soldat. Anton, der Verschollene. Anton, der Gewesene. Anton, der Gegenwärtige. Anton, Anton, Anton –
ganz einfach.
Von Briefen zu Wolle. Früher waren die Briefe ihr Trost, ihre Freudenspender, ihre Zuflucht – heute flüchtet sie nicht mehr. Sie kann nun Wolle in ihrer Dose aufbewahren.
Wolle – wohlig, was könnte daran falsch sein?
Sind es nicht auch Lebensfäden? Farbenspektrum der Jahre?
Das Rot erinnert sie an das Rot ihrer jungen Feuerliebe. Das Blau an die Stunden des Wartens, die Demut vor Gott. Das kraftvolle Gelb reflektiert leuchtendes Sonnenlicht, wie es sie wohlig umhüllte am Tag ihrer Verlobung. Ach und das Grün, das Grün der Bäume im Frühjahr; Zweige wedeln behutsam in der Erinnerung. Anton liebte das Frühjahr und sie liebte alles, was er liebte. Warum eigentlich?
Zu Farben fragt man nichts – zu Anton auch nicht. Alles war einmal so klar.
Das erdfarbene Braun mag sie nicht. Erde bedeckt ihren Anton. Aber braun eignet sich nun einmal gut für Strümpfe. Strümpfe wärmen Füße. Füße marschieren, marschieren weg.
Nein, braun mag sie nicht.
Das Schwarz, sie übersieht es so leicht. Es ist auch schon etwas dunkel im Raum. Doch stricken geht blind, sie braucht kein Licht. Licht blendet sie. Schwarz ist edel, könnte mal reichen für ein nettes Krägelchen. Doch braucht sie das noch? Eigentlich nicht, denn sie geht kaum noch vor die Türe. Also wozu könnte sie das Schwarz mal verstricken? Ist es denn wichtig, wann – wofür?
Nein, sagt sich die alte Frau. Es ist nicht wichtig, wann und wofür man welche Farbe verwendet, alle Farben sind bunt – bis auf das Braun.
Braun ist wirklich keine Farbe.
© Helga Boban ~ Schlossfee 09/2005
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