Meine Lyrikecke im Traumschloss
   
  Meine Lyrikecke im Traumschloss
  Kurzgeschichten I
 


Kurzgeschichten I
  • Klage und Anklage

 
Klage und Anklage
 
Warum stand im Eingangsbereich keine Tafel mit der Aufschrift: Geben Sie ihren Verstand allmorgendlich an der Rezeption ab! Es hätte sich gehört, ich wäre vorgewarnt gewesen.

Der Klinikbau wirkte nicht gerade vertrauenserweckend auf mich, als ich vom Parkplatz kommend, auf ihn zusteuerte. Zudem, es war ein bitterkalter Aprilmorgen. Diese Kälte paßte exakt zu meiner Stimmung.

Vor der Klinik entdeckte ich ein gemütliches Gartenhäuschen. Ich und meine ersten Fehleinschätzungen: Beim näheren Betrachten sah ich Fenster ohne Fensterscheiben, dahinter blaugefrorene Gesichter – ich begriff, das war die Raucherzone. Freiluftvergnügen. Zögerlich ging ich auf den Haupteingang zu. Türen schwangen auf, Geisterhände übernahmen mich. Außer mir befanden sich etwa 20 Leute im Foyer mit Koffern, mit Familienangehörigen oder sie standen vereinzelt da, wirkten wie ich – allein, verunsichert, etwas ängstlich.

Wir werden von einer propperen Frau um die Fünfzig mit unseren Namen aufgerufen, Schlüssel werden ausgehändigt. Zimmersuche, hastiges, unüberlegtes Eilen durch Gänge – Panik kriecht in mir hoch.. Was mache ich nur? Wie um alles in der Welt komme ich hierher? Stimmt, ich brauche Hilfe – professionelle Hilfe. Vor Traurigkeit und Angst vergesse ich so vieles, am meisten mich.

Der erste Tag zieht an mir vorüber. Ich nehme manches wahr, registriere nichts. Speisesaal, mein Zimmer, Rezeption – mehr Füllung kann ich nicht in mich hineinpacken.
Abendstunden am Klinik-PC, den Seelen-Fragen-Katalog per Mausklick bearbeiten. Wie ich mich fühle, wenn ich… ? Was ich tue bei… ? Wie reagiere ich auf... ?
2 Stunden und sicherlich tausende von Fragen die mich auslaugen, erschöpfen und morgen nach der Auswertung folgt die Diagnose.
Schlaflose Nacht, eingeigelt in meine Decke – kommentarloses Träumen.
 
Ab heute wird mir geholfen, ich fühle es. Hasenherzig begebe ich mich zum Frühstück in den Speisesaal – so viele Menschen, angsteinflößend, laut, hektisches Suchen, Umherirren, Peinlichkeit. Der Kaffee würgt mich, ohne Zigarette kein Genuß. Ins Gartenhäuschen? Nein, lauter fremde Menschen die mich mustern von oben bis unten.

Mein Therapeut ist Schwabe, ich habe Glück! Er sieht nett aus: schwarze, gelockte Haare, schätzungsweise Mitte Dreißig und er freut sich auf die Schwäbin. Endlich mal schwätzen können wie ihm der Schnabel gewachsen ist, meint er. Ich soll erzählen. Wo fange ich an? Ich rede wirres Zeug, weil ich besonders intelligent erscheinen will. Lockenkopf schreibt mit, fragt dazwischen, er scheint mir gut gesonnen. Das zumindest spüre ich...

Die Auswertung auf mein gestriges „Frage-Antwort-Spiel“ liegt vor. Patientin ist „durchschaut“. Ich bin bei allem SEHR, sagt mir Lockenkopf, sehr depressiv, sehr ängstlich, sehr panisch, sehr gefährdet – eben einfach SEHR. Ich bewege mich auf allerhöchster Stufe, meint er, er wird ein Auge auf mich haben müssen. Ich werde „aufgeteilt“: Ein Teil von mir kann in die Märchentherapie gehen oder in die Maltherapie, ein anderer Teil wird mit ihm täglich Einzelgespräche führen, ein weiterer Teil wird an Gruppensitzungen mitwirken. Und natürlich müßte mein körperlicher Anteil auch gefordert werden, Bewegungstherapie mit Walking, Schwimmen kann er mir anbieten – oder lieber Gartenarbeit? Wie? Was? Bloß nicht!

Wir einigen uns unter anderem auf Maltherapie, wobei mein Kehlkopf mir bereits Schluckprobleme bereitet. Ich signalisiere Lockenkopf, daß ich nicht malen kann und ich ließe mich ungern anhand von Strichmännchen analsysieren! Er fragt: „Also doch lieber Märchengruppe?“ - Im Rollenspiel lernen mit sich und anderen umzugehen, Gefühle zuzulassen, sie auszudrücken. Nein, ich bin keine Schauspielerin und ich mag mich erst recht nicht produzieren. Also lieber malen, auch wenn sich in mir alles dagegen sträubt. Mir ist äußerst unbehaglich zumute.

Meine permanente Ehrlichkeit dem Therapeuten gegenüber erweist sich als nicht gut. Je ehrlicher ich bin, umso mehr Angriffsflächen biete ich. Er findet immer Haken und Ösen an mir und er drängt mich zu Dingen, die ich nicht einmal als Gesunde in Angriff nehmen würde. So soll ich heute - weil ich mich den allabendlichen Patienten-Saufgelagen in diversen Kneipen nicht anschließe - zur Mittagessenszeit jemanden suchen, der mit mir 1 Stunde Boccia spielt. Aha, im Speisesaal wird getafelt und ich darf mit einem Wildfremden Boccia spielen – mit Einem der des Essens überdrüssig ist sozusagen. Bislang sah ich nur, daß beim Mittagstisch die heißesten Schlachten geschlagen werden. Außerdem regnet es in Strömen. Ich frage mich, wer verrückter ist, Lockenkopf hinter dem Schreibtisch oder ich davor. Soll ich schon wieder meutern? Seinem Blick entnehme ich: Nicht fragen, tun!

„Motzen“ wird eindeutig als therapiefeindlich eingestuft, also schweige ich, obwohl zehnerlei Gegenantworten in meinem Gehirn aufschreien.

Eine junge Frau auf dem Weg zum Speisesaal kommt mir entgegen, bleibt stehen, mustert mich und meint, aus mir würde sich fast sichtbar eine Sorge wölben. Sie ist nett und spielt mit mir im Regen Boccia. Wir sind dreckig, verspritzt von oben bis unten, triefen vor Nässe, als wir nach einer halben Stunde abbrechen. Lockenkopf beobachtet uns vom Eingang aus, trocken verwahrt, mit einem unangenehmen Lächeln im Gesicht. Seine Mine wirkt säuerlich, als wir mit schlammigen Schuhen an ihm vorbei durch die pieksaubere Halle zum Speisesaal „waten“.

Wegen Minderzeit beim Boccia-Spiel bekomme ich für den Abend wieder zwei Stunden PC-Fragen verordnet. Ich erfahre nicht, was er daraus analysierte. Dafür händigt er mir erstmalig am nächsten Tag papierene Fragebögen aus, die ich vor seinen Augen ausfüllen muß. Nächste Anordnung: Ich habe meine Medikamente ab heute dreimal täglich im Schwesternzimmer selbst abzuholen; davor gab es die Wochenration aufs Zimmer.

Nur stelle ich später fest, das Schwesternzimmer ist nie zu den Zeiten besetzt, zu denen ich einbestellt bin. Schwestern denen ich ab und an mal in den Gängen begegne, fühlen sich nicht zuständig. So komme ich kaum noch zu meinen diversen „bunten“ Pillen. Die medikamentöse Grundversorgung ist nicht mehr gewährleistet und Lockenkopf schimpft, weil ich mich nicht an die Ordnung halte. Mein Hinweis, daß das Stationszimmer zur verordneten Zeit immer geschlossen ist, läuft ins Leere. Denn: Was nicht sein kann, das nicht sein darf. Es liegt nicht am System oder an einer geschlossenen Türe, es liegt an mir. Punkt!
 
 
Mir geht es schlecht, schlechter als Zuhause, schlechter als je zuvor. In jeder einsamen Minute fließen unaufhaltsam die Tränen. Sie laufen in Sturzbächen die Wangen herunter, benässen Blusen und Shirts, tropfen auf Hosen. Ich finde daran nichts Besonderes, das ist mein Alltag.

An den Wochenenden, die Tage wurden mittlerweile wärmer, flüchte ich in den Klinik-Park. Hinter einer großen Hecke halte ich mich stets auf, fühle ich mich etwas geborgen. Bewaffnet mit vielen Zigaretten, einem Gartenstuhl und einer Flasche Wasser verbringe ich die Stunden zwischen den Mahlzeiten im Sonnenschein, leide vor mich hin. Ich muß nicht auf mein beständiges Wimmern achten, den niemand verirrt sich in diesen abgelegenen Teil des Parks.
 

An den Abenden trotte ich durch den nahe gelegenen Wald – höre nicht einen Vogel, sehe die Bäume nicht, stolpere mit nassen Augen blind über Baumwurzeln. Neben mir geht die Furcht, die mein ständiger Begleiter ist. Sie hakt sich in meinem linken Arm unter und verläßt mich nicht; rechts klebt die Traurigkeit an mir. Sie hält Schritt, geht immer auf Augenhöhe mit. An extrem schlechten Abenden bremst mich von vorne noch der Mut, zerreißt mich von hinten die Hoffnung.

Wochen vergehen, aufgearbeitete Fragebögen stapeln sich in meinem Zimmer. Die härteste Frage war eindeutig diese: Wie oft gehen Sie nachts auf hohen Mauern oder Dächern spazieren? So also sieht man mich? Ich bin die Frau, die sich nachts hoch hinauf begibt um tief zu fallen. Mich wundert, daß ich noch nicht in die geschlossene Psychiatrie verlegt wurde. Das ängstigt mich, steht es mir noch bevor?

Ich nehme meine allerletzte Willenskraft zusammen und melde mich beim „Oberguru“ des Therapeutenteams für eine Beschwerde an. Ich werde sogar vorgelassen, gehört und verlange, auf Grund dieser (und ähnlicher Fragen), einen anderen Therapeuten. Niemand außer mir bekommt papierene Fragebögen, sozusagen die der „allerfeinsten Güte“. Ich beschreibe die Schikanen, die mir mein Therapeut zumutet, aber über allem kreist: Ich habe nicht das geringste Vertrauen zu Lockenkopf.

Lockenkopf muß „antanzen“ – er wird vor mir reglementiert, muß sich bei mir entschuldigen und: er bleibt mein Therapeut. Mist, nichts gewonnen, nun werde ich von einem zurechtgewiesenen Therapeuten weiterbehandelt. Am nächsten Morgen lotst er mich aus seinem Büro ins Freie. Wir gehen in den angrenzenden Wald und er sagt mir was er von mir hält: „Sie sind bloß zu faul zum Schaffen. Sie möchtet dahoim bleibe und sich a paar schöne Wochen und Monate macha“. Im schönsten Schwäbisch vernichtet er mich Schritt für Schritt.

Voller Hass schnaube ich ihm direkt ins Gesicht: „Bürschchen, arbeiten Sie erst mal so lange wie ich! Dann können Sie vielleicht mitreden! Wenn Sie Handlanger der BfA sind, ist das Ihr Problem, nicht meines. Ich kam hierher um gesund zu werden, weil so mein Leben unerträglich ist, aber bei Ihnen wird man sterbenskrank! Sie Möchte-gern-Psychologe! Sie Schwäbischer!“

Mir wird schlagartig klar, es geht gar nicht um Seelen-Hilfe, um die Aufarbeitung oder Behebung der unendlichen Traurigkeit, der Ängste, der Panikattacken, der Selbstmordgedanken. Es geht ausschließlich darum, daß man wieder funktioniert. Das Zauberwort heißt: Wiedereingliederung ins Berufsleben. Nachdem ich dies nun alles auf einmal begreife, wird mein Hilferufen ab sofort leiser und leiser, verklingt, verhallt ungehört.

 
Meine sensible Boccia-Mitspielerin leidet mit mir, ich mit ihr – wir leiden im Duett. Sie verlor ihren 21jährigen Sohn vor einem Jahr bei einem Autounfall. Seither empfindet sie ihr Leben als ein nie endendes Minenfeld. Bei kleinsten Kleinigkeiten geht sie hoch. Sie schläft nicht, sie vernachlässigt ihre Familie und sich, sie will nicht mehr leben. Sie ist nicht mehr fähig zu unterrichten – der Anblick von Jugendlichen verbrennt die Lehrerin aus Leidenschaft täglich aufs Neue.

Ihr Gruppentanztherapeut (auch das gibt es), der Hinterbliebene „verpflastert“ – will, daß die Trauergruppe auf dem Boden einen Altar errichtet, geschmückt mit frisch gepflückten Blumen, stilecht verfeinert mit brennenden Kerzen. Sie sollen sich an den Händen fassen, um den Altar tanzen, singen, sich wiegen und „Jubilate“ singen, dankbar dafür, daß die Toten ihr Heil gefunden haben. Gertrud ist fassungslos – sie will nicht ums „Goldene Kalb“ tanzen und sich freuen, daß ihr Sohn sein Leben nicht leben durfte. Sie weigert sich, verläßt den Gruppenraum und bekommt nun die gleichen Fragebögen wie ich. Ein Verlassen der Gruppe während der Therapiestunde ist der sichtbare Beweis für die vollkommene Mißachtung des Therapeuten.

 
 
Krisensitzung der Therapeuten – Krisensitzung abends im Wald.

Gertrud sitzt in sich zusammengekauert auf einem Baumstumpf; sie weint sich die Seele aus dem Leib. Ich kann sie nur halten und ihr Gesicht in meine beiden Hände nehmen. Worte helfen nicht, Worte zerstören. Wir weinen gemeinsam, alles fließt. Auch die Mosel unter uns fließt still und ruhig dahin. Bis heute wissen wir nicht, was nach der nächsten Flußbiegung zu sehen gewesen wäre.

Meine Maltherapie ist ein einziges Fiasko. Bevor wir uns über diverse Aquarellfarben hermachen dürfen, muß das Papier befeuchtet vor uns liegen. Schon folgt die obligatorische Mediation. Von sanfter Stimme geführt, gelangen wir täglich über verschiedene „Anreisewege“ zu einem Tor und jeden Tag befindet sich etwas anderes dahinter. Mir stellt sich das Ganze wie eine Falle dar, kaum daß das Tor aufgestossen wird und wir hindurchgehen sollen, fühle ich mich nicht frei wie die anderen, sondern beengt und gequält.
 
 
Was soll ich nun wieder erkennen, bearbeiten? Mein Hustenanfall, der täglich mit dem Öffnen des Tores einsetzt, bringt wieder alle aus dem Konzept. Ich bemerke die Unruhe neben mir, merke, daß jemand weint und ich schlucke und huste und huste und schlucke. Nach 10 Minuten ist die Mediation meist vorbei, mein Husten endet mit dem Öffnen der Augen.

Die Therapeutin blickt mich wie jeden Tag verständnislos an... immer meine inneren Revolten, denkt sie sicher. Es ist mir egal, was sie denkt. Ich male einfach und schmiere auf dem Blatt wie befohlen herum und am Ende beurteilt sie es. Genau das was ich nicht wollte.

Sie würde an mir Fortschritte erkennen, meine Farben wären schon wärmer. Blöde Kuh, ich kam nie an die Farben ran, die ich haben wollte. Wir mögen uns absolut nicht – sie und ich.

Solange ich noch hier sein muß: Ich gebe den Verstand nicht an der Rezeption ab. Komme was da wolle!

Das Ende der Geschichte – ich fuhr verzweifelter, verworrener, zerstörter nach Hause, als wie ich vor Wochen eintraf. Hilfe fand ich erst bei einem sehr, sehr guten Therapeuten in ambulanter Behandlung. - Geht doch!!!


© Helga Boban ~ Schlossfee 24.03.2006
 
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